Der preisgekrönte Magnum Fotograf und Filmemacher Alberto Venzago hatte viele berühmte Persönlichkeiten, berüchtigte Mafiabosse und erschütternde Kriegsschauplätze vor seiner Linse. Seine Retrospektive im Museum für Gestaltung in Zürich führt die Besucher:innen in verschiedene Welten, die kontroverser nicht sein könnten und einen staunen und erschaudern lassen.
Letzte Woche habe ich den Fotovirtuosen virtuell vor der «Zoom» Linse zum Interview getroffen und viel über den Starfotografen erfahren, u.a. wie und wo er dank seinem Lächeln knapp dem Tod entkommen ist. Auch seine zehn nicht alltäglichen Lieblingsorte hat er mir in diesem Interview verraten.
Alberto, du hast mir vor unserem Interview bereits deine zehn Lieblingsorte per E-Mail zukommen lassen. Eigentlich könnten wir unser Gespräch hier bereits wieder beenden, denn deine Auswahl an Plätzen mit den entsprechenden spannenden Beschreibungen ist ja bereits eine Story für sich! Oder gibt’s noch mehr über dich und deine Retrospektive zu erfahren?
<Lacht.> Als Christian Brändle, der Kurator des Museums für Gestaltung in Zürich, mit der Idee einer Retrospektive auf mich zukam, dachte ich erst: «Ähm..ich lebe doch noch…und ist eine Retrospektive nicht der erste Schritt zur eigenen Todesanzeige?» Doch offensichtlich und zum guten Glück täuschte ich mich. Als ich kurz vor der Eröffnung meiner Ausstellung in den noch leeren Räumen stand, machte ich mir folgenden mathematischen Gedanken: Jetzt habe ich über fünfzig Jahre fotografiert, hunderttausende von Fotos geschossen, von denen ich tausend dem Kurator Christian Brändle präsentiert habe, der die Arbeiten wiederum nochmals auf vierhundertfünfzig runterbrach und nun stelle ich fest: Abgesehen von den Vorbereitungen für ein Bild, benötigt man zum Fotografieren genau eine hunderfünfundzwanstigel Sekunde. So gesehen wurde die ganze Ausstellung in genau fünf Sekunden fotografiert.
Du warst früher für die Fotoagentur Magnum auch auf Kriegsschauplätzen intensiv unterwegs. Da bist du bestimmt auch in heikle Situation geraten. Wie bist du mit diesen Schrecksekunden umgegangen?
Ich habe das grosse Glück, als Sunnyboy geboren worden zu sein. Ich trage immer ein Lachen auf meinem Gesicht. Das wurde mir in die Wiege gelegt. Im Ernst, mir hat mein Lachen schon oft das Leben gerettet! Wie dazumal im Iran, während der Revolution, als schwer bewaffnete Männer drohend auf mich zukamen, weil sie dachten ich sei Amerikaner. Aber die Schlimmsten waren die Kindersoldaten im Kongo. Die kannten weder Moral noch Skrupel. Kinder mit einer verhängnisvollen DNA.
Du hast mal in einem Interview erwähnt, die Leute, die von dir fotografiert werden, wollen auch in deine Seele blicken können, damit sie vertrauen gewinnen. Da ist natürlich eine lachende Seele ein grosser Vorteil…
Ich hatte meinen Smile bereits in der Kindheit und bekam alles was ich wollte. Heute stehe ich immer noch mit einem Lächeln auf und bin von Grund auf glücklich und dankbar. Jeden Tag. Meine Mutter war Jüdin mein Vater Katholik. Ich wuchs in einem sehr kultivierten Elternhaus auf. Die christlichen Rituale waren ein fester Bestandteil meiner Kindheit, wie auch die Musik. Mein Bruder, der Dirigent Mario Venzago, und ich verbrachten viel lieber Zeit zuhause und musizierten, als draussen mit den anderen Jungs auf dem Fussballplatz zu spielen.
Diese Rituale und der dazugehörige Kult haben auch meine filmischen und fotografischen Arbeiten später intensiv geprägt. Sei es bei der Yakuza Mafia in Japan oder bei den Voodoo Priestern in Westafrika. Am Ende geht es immer um dasselbe: Auf der Suche nach dem Heiligen Gral.
Ich könnte dir stundenlang zuhören. So viele spannende und unglaubliche Geschichten, die du zu erzählen hast. Deine Geschichten spiegeln sich auch gut in deinen Fotoreportagen wider, die noch bis zum 2. Januar 2022 in der Retrospektive im Museum für Gestaltung zu sehen sind. Zudem ist das neue Fotobuch “Taking Picutures, Making Pictures” im Steigl/Diogenes Verlag von dir neu auf dem Markt erschienen. Und des weiteren erwarten alle dein überdimensionales Buch “One, seduced by the darkkness”, welches du mit deiner Partnerin und Muse Julia Fokina produziert hast. Hand aufs Herz. Wann erscheint dieses doch sehr erotische Foto-Buch?
Es liegt da, auf dem Ständer! Eine Auflage von zehn Stück. Alles von Hand angefertigt, bestes Leder und wiegt lediglich 45kg. Zudem wurden noch hundert weitere in einer kleineren Version gedruckt. Eine Art Volksausgabe zu einem erschwinglichen Preis. Selbstverständlich sind auch Ausschnitte aus dem Buch in der Retrospektive zu sehen sein. Jugendfrei versteht sich.
Und schon wieder blitzt sein berühmtes Happy Smile auf, vermischt mit einer grossen Prise verschmitzten, lausbübischen Schalk.
Seine 10 Lieblingsorte:
New York
«Ist eh meine Lieblingsstadt. Habe dort 10 Jahre gewohnt, in Soho, noch vor der hippen Konsumzeit…
Café Select, 212 Lafayette St. New York, NY 10012.
Oli Stumm, der Besitzer, war DER DJ im Kaufleuten in Zürich. Ich kenne ihn seit über 30 Jahren und sein Cafe Select ist das beste Mittel, um ab und zu Heimweh zu unterdrücken.
Schweizer Werbung aus den 50er Jahre, Militärwolldecken zum Fondue. Zudem verkehren dort die schönsten Frauen New Yorks. Wie meine Tochter, die als Model in NY lebt.»
Paris
«L’Atlas, 12 Boulevard Saint Germain, 75005 Paris.
Im Quartier Latin. Habe mit Rene Burri 4 Jahre ein Mansardenzimmer bewohnt, direkt gegenüber von Picassos Atelier.
Obwohl L’Atlas eine Touristenbude ist, ist sie ein MUST.
Mit meiner Lebenspartnerin Julia beginnen wir den Abend um 16 Uhr und fressen uns durch die Menükarte durch. Les Entrées, les Plats und die Desserts. Zum Glück wird der Wein in Karaffen serviert…. Man verliert schnell die Übersicht. Um Mitternacht sind wir froh, dass unser Lieblingshotel gleich um die Ecke ist und einen Lift hat.»
Tokyo
«In Roppongi, dem angesagten Viertel Tokyos, bin ich gerne im Mori Art Center.
6-10-1 Roppongi Hills Mori Tower, Roppongi, Minato 106-6150 Tokyo.
Im 53. Stock befindet sich das THE SUN AND THE MOON RESTAURANT.
Die Fois Gras confits sind ein Hammer, aber noch besser ist die Sicht über ganz Tokyo.
Die Liste der japanischen Tees ist endlos.»
Shanghai
«Die Dachterrasse des Peace Hotels ist das beste, was Shanghai zu bieten hat. Das alte Cathay Hotel liegt direkt am Bund gelegen. Hier oben kann ich stundenlang dem Flussverkehr zuschauen.
20 Nanjing Road East, Huang Pu District, Shanghai, 200002 China.
1850 von den Briten gebaut. Im 2. Weltkrieg von den Japanern als Hauptquartier genutzt. Während der Kulturrevolution war es das Hauptquartier der «Gang of Four».
Die Getränkekarte ist lang. Jeder Drink hat seine Geschichte. Hier kann es passieren, dass man vor lauter Unaufgeregtheit nach zwei Stunden immer noch am ersten Drink nibbelt.»
Zürich
«Kaufleuten, Pelikanplatz, 8001 Zürich.
Ehrlich gesagt bin ich in Zürich am liebsten zuhause. Schlieren ist nicht gerade gesegnet mit kulinarischen Highlights.
Aber die Kronenhalle ist schick, das Kaufleuten hat sich verändert, und trotzdem bin ich ab und zu gerne dort und hänge den alten Zeiten nach, wo Coke noch kein Getränk war. Zwinglianische Öffnungszeiten….Das Rindstatar ist super!!»
Venedig
«Harry’s Bar. Calle Vallaresso, San Marco, 1323 Venedig.
Seit Matthias Ackeret mir mit seinem neuesten Roman ein Denkmal gesetzt hat, gehört die Harry’s Bar zu meinen Favorites.
Die Martinis sind spitze, das Geheimrezept: 10 Teile Gin, 1 Teil Vermouth. Hier spielt im „SMS an Augusto Venzini“ eine Schlüsselszene. Vor uns waren schon Gary Cooper, Ernest Hemingway, Orson Wells und auch ein paar Prinzessinnen da. Apropos principessa: Mit der schönen Julia am Arm kann es passieren, dass man plötzlich im ersten Stock landet. Hier schmecken der obligate Bellini und das Carpaccio besser. Soll niemand jammern: Die Preise sind nach Zürcher Massstab HORREND.»
Berlin
«China Club, Behrensstrasse 72, Berlin, 10117.
Nach Hongkong jetzt in Berlin. Einer der schönsten Clubs, die ich kenne. Nur durch Einladung. Das Ambiente ist einmalig, retro-schick im Shanghai Stil. Man vergisst in Berlin zu sein, ausser man blickt von der grossen Dachterrasse runter, direkt aufs Holocaust-Denkmal.
Das Essen ist chinesisch asiatischer Worldmix, super, die Bar grossartig. Aber am besten sind die Korridore mit chinesischen Antiquitäten, alten Fotografien und zeitgenössischer chinesischer Kunst.»
Strände in den Hamptons
«Ich liebe die langen Spaziergänge am Strand der Hamptons, am östlichen Ende von Long Island.
Die Zeit steht hier still. Der alte Reichtum wird schon fast wie in Zürich versteckt. Die Villen und Landhäuser sind nicht sichtbar.
Ob es mir deswegen so gefällt?»
Gaswerk Schlieren
«In meinem Loft fühl ich mich am wohlsten. Familie und Katzen. Direkt an der Limmat, mit dem Fahrrad 20 Minuten am Wasser entlang nach Zürich West, meiner alten Heimat. Alte Industrie wie damals, als ich in New York in Soho lebte.»
Wichtigster Ort
«Wenn ich so über meine Lieblingsorte nachdenke, sind es eigentlich gar keine Orte. Meistens sind es Befindlichkeiten, die einen Ort zum Favoriten machen. Sei es mit der richtigen Begleitung oder mit der richtigen Einstellung. Oder wie es mein Mentor im Voodookloster in Westafrika formulierte: «Du bist nicht zu mir gekommen, ich habe dich gerufen…»»