In der Schweiz gibt es tausende von Restaurants. Aber nur drei davon haben drei “Michelin”-Sterne. Teil 3 unserer Mini-Serie: das Restaurant Hôtel de Ville, der Leuchtturm der Haute Cuisine.
Ich habe die merkwürdige Angewohnheit, unter dem Tisch die Schuhe auszuziehen, wenn ich mich an einem Ort besonders wohl fühle. Im Restaurant de l’Hôtel de Ville in Crissier sitze ich deshalb nach ein paar Minuten immer in den Socken da. Es gibt auf der ganzen Welt wohl kein Lokal dieser Klasse, das einem so sehr den Eindruck vermittelt, bei guten Freunden auf Besuch zu sein. Der Service unter der Leitung des legendären Louis Villeneuve besticht nicht nur mit Kompetenz und Aufmerksamkeit, sondern eben auch mit einer Herzlichkeit und einem Charme, der Seinesgleichen sucht. Hierher kommt man nicht, um zu protzen oder ehrfürchtig zu staunen, es zählt nur eines: die Freude an Gastfreundschaft und Kulinarik auf Weltklasseniveau.
Das Hôtel de Ville – mit Ausnahme eines Übergangsjahrs seit 1975 ununterbrochen mit drei Sternen im “Guide Michelin” ausgezeichnet – steht für eine geradlinige, auf das Produkt fokussierte Küche. Klassisch in der Anlage, virtuos-feinsinnig in der Ausführung. Und seit Franck Giovannini die Leitung der Küche übernommen hat, bisweilen auch wohltuend rustikal. Eine meiner schönsten Erinnerungen: glasierte Schweinefüsschen mit Madeira und Périgordtrüffel.
390 Franken fürs Menü sind nur auf den ersten Blick teuer
Während manche Küchenchefs mit Luxusprodukten wie besagtem Périgordtrüffel oder Kaviar vor allem Eindruck schinden wollen, erfüllen sie in Crissier stets eine geschmackliche Funktion. Und sind deshalb überaus grosszügig portioniert. Trüffel gibt es zum Beispiel nicht nur in Scheiben, sondern auch in Würfeln mit bis zu einem Zentimeter Seitenlänge. Das relativiert die auf den ersten Blick happigen Menüpreise – die vollständige Speisefolge kostet 390 Franken – ganz erheblich.
Um das Menu gastronomique aufessen zu können, muss man ein ziemlicher Vielfrass sein. Für die meisten Gäste dürfte deshalb das Menu découverte (315 Fr.) die beste Wahl sein. Dieses besteht aus acht Gerichten, die der Chef spontan zusammenstellt. Wer in der gloriosen Vergangenheit des Restaurants schwelgen möchte, bestellt sich die Ente nach Art des langjährigen Patrons Frédy Girardet, der das Haus in den Siebzigern zum Gourmettempel von internationaler Bedeutung machte. Im Preis von 200 Franken für zwei Personen ist auch eine einmalige Show inbegriffen: So virtuos wie Monsieur Villeneuve (seit 44 Jahren im Betrieb!) zerlegt niemand auf der ganze Welt Geflügel.
Unbedingt das Soufflé probieren!
Noch begehrter als sonst sind die Tische im Hôtel de Ville während der Wildsaison. Kein Wunder: Die Expertise in diesem Bereich verdient das Prädikat “einzigartig”, zudem unterhält das Haus seit vielen Jahren erstklassige Beziehungen mit Jägern, die ihre besten Tiere nicht wie üblich selber essen, sondern voller Stolz weitergeben. Überragend ist die Produktqualität auch bei Fischen und Meeresfrüchten. Giovannini kauft nur ganze Tiere und zögert wie einst seine Vorgänger Girardet, Rochat und Violier keine Sekunde, nicht hundert Prozent überzeugende Ware zurückzuweisen.
Die Weinkarte bietet natürlich alles, was Rang und Namen hat. Erfreulicherweise findet man aber auch zahlreiche Flaschen unter 100 Franken, vorzugsweise aus der Westschweiz. Widerspruch ist nur ein einem Fall angezeigt: wenn das göttliche, schaumig-luftige Soufflé – je nach Saison mit einer anderen Sauce – nicht auf dem Menü steht. Crissier zu verlassen, ohne davon gekostet zu haben, das ist wie ein Besuch auf den Malediven ohne Tauchgang.