Christian Frei Gewinner Genuss Film Award
Foto: Nina Dick

Christian Frei – Filmautor, Filmregisseur, Filmproduzent und Gewinner des Genuss Film Awards

Gratuliere zum Genuss Film Award!

Wie geht es dir heute nach dem Empfang des Preises?

Sehr gut. Ich freue mich sehr über diesen Preis, auch wenn durchaus die Frage aufkommen könnte, ob diese Genusswelt hier nicht mit den Kriegsschauplätzen, an denen ich gedreht habe, im Kontrast beziehungsweise Widerspruch steht. Zum Glück bin ich aber auch ein Genussmensch.

Welcher Typ von Genussmensch bist du? Der kulinarische oder kulturelle Geniesser?

Beides. Einerseits schätze ich gutes Essen, eine feine Zigarre und zum anderen ein berührendes Konzert. Am meisten geniesse ich aber die Schönheit und Tiefe der Reflektion dieser Welt, die gut gemachte Dokumentarfilme vermitteln. Statt YouTube Fastfood und hyperventilierenden TV-Nachrichten schätze ich Dokumentarfilme, die so rüberkommen wie ein hervorragendes Essen eines leidenschaftlichen Kochs.

Als Filmer ist man auch ein Brückenbauer zwischen den Protagonisten und den Zuschauern, wie dies ein Koch auch zu seinen Gästen ist.

Ich möchte mehr über diesen “Brückenbauer” erfahren.

Da kann ich eine berührende Geschichte erzählen. Einer der Protagonisten in meinem Film «War Photographer» ist ein Bettler aus Jakarta. Einer jener, die an den Strassen betteln, während die schwarzen Limousinen mit den hochgedrehten getönten Scheiben vorbeifahren. Als ich vom Schweizer Botschafter in Indonesien für ein Abendessen in seine Residenz eingeladen wurde, staunte ich nicht schlecht, dass dieser auch den Bettler meines Films zum Dinner geladen hatte. Ich dachte, das kann nicht gut kommen. Mit Silberbesteck von aussen nach innen essen, das wird er nicht hinkriegen. Der Botschafter meinte jedoch auf meine Bedenken angesprochen: «Kein Problem Herr Frei, wir werden Fingerfood anbieten!»

Das Schöne an der Geschichte ist, dass der Botschafter den Bettler nach meiner Abreise weiterhin zum Essen in seine Residenz einlud. Das hat mich sehr gefreut, dass ich quasi als Brückenbauer fungieren konnte zwischen dem Bettler und unserem Regierungsvertreter in Indonesien. Ich habe eine Begegnung ermöglicht und die schwarz getönten Scheiben buchstäblich durchbrochen.

Wie verarbeitest du deine Reisen? Während dem Zusammenschneiden deiner Filme?

Im Film «War Photographer» waren es nicht nur die unzumutbaren Bilder, die mir nahe gingen, sondern vor allem auch Gerüche. Der Gestank des Krieges ist fürchterlich. Die Kamera diente während der Arbeit als vermeintlicher Schutz und bot eine emotionale Distanz zum Geschehen. Während den Schnittarbeiten in der Schweiz kamen die Bilder jedoch wieder hoch, sodass ich zwischendurch meine damalige Assistentin nach Hause schicken musste, um diese Szenen im Nachhinein für mich zu verarbeiten.

Wie gehst du mit den beiden Welten um? Einerseits bewegst du dich in den Slums und in Kriegen, andererseits lebst du in der schönen Schweiz.

Durch meine Arbeit bin ich mir sehr bewusst geworden, wie dankbar ich bin, in einem solch überversicherten, wohlbehüteten Land leben zu dürfen. Für einen kreativen Menschen ist dieses Wohlbehütetsein aber auch ein Nachteil und eine Herausforderung. Wir leben in einem Zoo und definitiv nicht in einem Dschungel. Und das Leben im Dschungel ist spannender!

Was war der Schlüsselmoment zu deiner Dokumentarfilm-Karriere?

Ich begann meine Filmkarriere im Bereich Corporate-Movies. Ich lernte, wie es sich anfühlt, viel Geld zu verdienen. Doch ich wollte nicht als Zyniker mit einem Jaguar vor der Hütte und einem schönen Haus in der Toskana enden, wie es in dem Zitat von Hugo Lötscher bestens beschrieben wird: «Wer vom Slogan lebt, träumt vom Buch». Ich wollte das Buch schreiben! Tief in mir spürte ich, dass ich nicht nur träumen will.

Wie alt warst du bei deinem «Cut» des Lebens?

Nicht mehr blutjung! Bei der Oscar-Nominierung für «War Photographer» war ich über vierzig.  Ich bin der Überzeugung, dass es für das Filmemachen Lebenserfahrung braucht.

Hast du dich 2001, als du von der Oscar Nominierung gehört hast, trotzdem wie ein Kind gefreut?

Absolut! Das war eine schöne Erfahrung.

Was mich fasziniert an deiner Filmographie, ist die Früherkennung von unglaublichen Geschichten, die heutzutage nicht aktueller sein könnten.

2005 wurde dein Dokumentarfilm «The Giant Buddhas» veröffentlicht, wo es um die Zerstörung der Buddhas in Afghanistan geht. 2010 gewannst du beim Sundance Film Festival für «Space Tourists» den Regisseur-Preis. Auch dieses Thema ist heute aktueller denn je. Hand aufs Herz, hast du eine Kristallkugel oder ein Orakel zu Hause, oder wie kommt es, dass deine Geschichten von früher heute so präsent und aktuell sind?

Der Trick ist, nicht einem Trend hinterher zu rennen. Viele machen diesen Fehler. Mich hat ein Trend nie interessiert.

Kann man mit einem Film einen Trend setzen?

Wir Dokfilmer sind Seismographen. Kleine Schwingungen können spannender sein, als grosse laute Geschichten, die wieder in sich zusammenbrechen. Und dann gibt es Filme, die nicht oder sehr gut altern, zu denen meine glücklicherweise gezählt werden. Sie bleiben brandaktuell. Darauf bin ich stolz.

Dann sind wir wohl alle gespannt, welcher Film zurzeit in Planung ist.

Es geht um die chinesische Forscherin Zhengli Shi in Wuhan, die bereits vor vielen Jahren bei dem ersten Covid-Ausbruch vor einer noch grösseren Pandemie gewarnt hat, aber nicht beachtet wurde, und die jetzt mit unsäglichen Verschwörungstheorien konfrontiert und sogar beschuldigt wird, das Virus bewusst oder zumindest fahrlässig in die Welt gesetzt zu haben. Da bedarf es aus meiner Sicht einer Aufklärung. Nach meinem Film über Mammuts und Gentechnologie interessieren mich jetzt Fledermäuse und Viren. Und das Irrationale in unserem Umgang mit einer unsichtbaren Bedrohung.

Seine 10 Lieblingsorte

HAVANNA. Hotel Inglaterra, Paseo del Prado, No. 416 esq. San Rafael, La Habana, Habana Vieja, Havanna, Kuba. Kuba war der Drehort meines ersten Kinofilmes über einen revolutionären Vater und seine Tochter, die das sozialistische Paradies verlässt und mit ihrer Familie nach Miami auswandert. Der Stoff ist heute noch brandaktuell! Ich erinnere mich an meine allerersten Nächte auf dem Balkon des Inglaterra direkt am Parque Central.

AMSTERDAM. Tuschinski-Theater, Reguliersbreestraat 26–28, Amsterdam. Dieses legendäre Kino ist einer der Hauptspielstätten des Internationalen Dokumentarfilmfestival und ein Architektur-Juwel mit einer wilden Mischung aus Eklektizismus, Art Déco und Neugotik. Vor zehn Jahren liess ich hier die Raketen in meinem Film «Space Tourists» steigen. Der riesige Saal war rammelvoll und wirkte auf mich wie ein überfülltes Raumschiff!

TRÄNEN IN NEW YORK. Ellis Island, Statue of Liberty National Monument, New York. Auf Ellis Island an der Südspitze Manhattans wurden Anfangs der 1910er Jahre mehr als eine Million Einwanderer jährlich abgefertigt. Für nicht wenige Menschen platzte der Traum vom neuen Leben. Sie bestanden die Tests nicht. Deshalb der Spitzname «Isle of Tears». New York war auch tränenreiches Labor für meinen Film «Sleepless in New York» über Liebeskummer.

VALLE VERZASCA. Verzascatal, Tessin. Das Verzascatal ist so viel reicher als der mittlerweile berühmt-berüchtigte Overtourismus am Ponte die Salti in Lavertezzo. Den einsamen und wunderschönen Naturpool in der Nähe meines Rusticos hoch über dem Tal kennt kaum jemand. Und das soll auch so bleiben. Gerne verrate ich aber die Wassertemperatur. Sie beträgt 14 Grad. Im Sommer wie im Winter!

BINZ. Daizy, Räffelstrasse 28, 8045 Zürich. Einst Lehmgrube und langweiliges Industriequartier, ist die Binz mehr und mehr eine hochlebendige Stadtoase mit Künstlern und Start-Ups. Vor fünf Jahren zog Andy Mattmann mit seiner damaligen g27 Crew ein paar Strassen weiter. Nun führt er das Daizsy. Als Restaurant, Bar und Diner. Und mit Herzblut und exzellentem Essen!

NAAMA BAY. Ghazala Beach Hotel, El-Salam, خليج نعمة، Sharm Al Sheikh, South Sinai Governorate, Ägypten. Pauschaltourismus und überfüllte Strände sind echt nicht mein Ding. Aber meine Mutter liebt das Schnorcheln und sie liebt dieses einfache Hotel! Darum habe ich mir angewöhnt, es auch zu mögen. Unter Wasser bewegt sich meine 95-jährige Mutter immer noch wie ein Fisch. Ich witzle manchmal, sie sei fit wie Leni Riefenstahl, aber kein Nazi. Den Witz kann ich in Deutschland nicht machen.

JOSEFWIESE. Kiosk Josefwiese, Josefstrasse 197, 8005 Zürich. Mitten in der Stadt lebt es sich wie auf dem Dorf. Die Josefwiese ist ein Stück Heimat für mich. Hier geniesse ich mein Feierabendbier. In einer einfachen Gartenkneipe nahe der Viaduktbögen, betrieben vom Verein Kiosk Josefwiese. Hier haben wir vor zwei Jahren meinen 60. Geburtstag gefeiert. Und das war schön.

HANOI. Vietnam Military History Museum, 28A Dien Bien Phu, Ba Dinh District Hanoi, Vietnam. An Reisen nach Südostasien ist momentan nicht zu denken, und ich weiss auch nicht, warum ich mich so lebhaft an meinen Besuch im Militärmuseum erinnere. Viel Propaganda ist da zu sehen, ja. Aber auch bewegende Zeugnisse zur Geschichte dieses mutigen Volkes.

ECONOMY CLASS. Ich fliege gerne, und ich stehe dazu. Im Flugzeug habe ich meine besten Ideen! Auf dem Flug nach Boston las ich einen Artikel über den legendären Kriegsfotografen James Nachtwey. Wie er mit der Ruhe und Konzentration eines Zen-Buddhisten durch das Inferno von Kriegen schreitet. Daraus wurde mein Klassiker «War Photographer».

MEIN STUDIO – MORGENDÄMMERUNG. Das Schneiden eines Dokumentarfilms ist alles andere als einfach. Ich liebe es! Und ich liebe mein Schnittstudio und die intensive Arbeit darin. Oft stehe ich in diesen manischen Phasen sehr früh auf. Auf dem Weg in die Binz sind die jungen Nachtschwärmer an der Langstrasse immer noch am Rumhängen. Im Studio angekommen braue ich einen Kaffee und tauche ein.

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